Ausgezeichnetes Brownfield
Bei unserem Projekt Sartorius Quartier in Göttingen stehen die Zeichen auf Fertigstellung. Die Baukräne sind verschwunden, bald werden alle Mietparteien eingezogen sein. Einzig an den Außenanlagen wird noch gearbeitet. Im Sommer dieses Jahres konnte diese gemischt genutzte Quartiersentwicklung aber schon ihren ersten Preis entgegennehmen, den Brownfield24 Award.
Göttingens neues Quartier in der Nordstadt ist auf dem ehemaligen Werksgelände der Sartorius AG enstanden. Von der früheren Bebauung erhalten geblieben sind drei historische Gebäude. Zusammen mit der neu aufgebauten Sheddachhalle und dem Neubau an der Annastraße bilden sie das Zentrum des neuen Quartiers.
Hier herrscht das Thema Bildung und Forschung vor. Angesiedelt haben sich an dieser Stelle der Gesundheitscampus mit Studienangeboten im medizinisch-pflegerischen Bereich sowie die Life Science Factory, Inkubator für Forschung und Entwicklung innovativer Bio- und Medizin-Technologien.
Um dieses Zentrum herum ist Wohnraum entstanden sowie eine Kita, ferner ein Hotel mit Restaurant, Einzelhandelsflächen, Smart Apartments sowie ein gewerblich genutztes Gebäude mit Werkstätten und Büroflächen. Dort werden sich das Medizintechnikunternehmen Ottobock und das Rehazentrum Junge niederlassen.
Projektdaten
Lage:
Göttingen-Nordstadt
Projektvolumen:
ca. 45.500 m² BGF
Architektur:
Masterplan: Holzer Kobler Architekturen Zürich/Berlin; Entwurfs- und Ausführungsplanung: Bieling Architekten, Hamburg, Charles de Picciotto Architekt, Hamburg, Grüntuch Ernst Architekten, Berlin (Entwurf), Thüs Farnschläder Architekten, Hamburg (Ausführungsplanung)
Zeitplan:
Projektierung 2016–2019
Bauzeit 2019–2022
Reaktivierung des alten Industrieareals
Die nachfolgenden Fotos zeigen die Umwandlung vom ehemaligen Werksgelände zum neuen Wohnquartier aus der Luft: 2015 war das Werk noch in vollem Betrieb. 2017 fand bereits ein Teil-Abriss der Gebäude statt und Ende des Jahres zogen die letzten Mitarbeitenden aus. 2019 waren alle Gebäude bis auf den historischen Kern abgerissen und im Norden wuchsen schon die ersten Wohnungen des neuen Quartiers aus dem Boden. 2021 war der Rohbau und teilweise der Ausbau einiger Gebäude fertiggestellt und im Sommer 2022 verbleiben nur noch einzelne Ausbauarbeiten und die Außenanlagen, die noch zum Abschluss gebracht werden müssen.
Damit all das entstehen konnte, musste zunächst unter intensivem finanziellem Aufwand der Boden von Altlasten und Kampfmitteln gereinigt werden. Durch die realisierte dichte Bebauung ist das innerstädtische Grundstück bestmöglich ausgenutzt, sodass mit der Ressource Boden und der Erschließung sehr effizient und sparsam umgegangen worden ist. Dadurch dass auf einem bereits vollständig versiegelten Industrieareal gebaut wurde, konnte auf eine weitere Überbauung verzichtet und sogar bei rund 15% der Fläche durch Entsiegelung der Boden reaktiviert werden.
Um ein attraktives Quartier mit hoher Aufenthaltsqualität zu erzeugen, enstehen Außenanlagen mit hoher ästhetischer, ökologischer und sozialer Qualität. Über 150 Bäume werden gepflanzt - allein über 30 Bäume auf dem zentralen Quartiersplatz -, die im Sommer Schatten spenden und für ein angenehmes Mikroklima sorgen werden.
Mit dem Aufgreifen der alten Nutzungen und der Erzeugung von starken Synergien, der Orientierung an bestehenden städtebaulichen Strukturen sowie dem Erhalt der prägenden Gebäude und der aufwendigen Altlastensanierung stellt das Sartorius Quartier eine Flächenreaktivierung der besonderen Art dar: Es nutzt nicht nur Konversionsflächen, sondern schreibt aktiv die Geschichte des Ortes weiter.
Diese Art der Entwicklung dieses früheren Brownfields hat die Jury des Brownfield24 Award 2022 mit dem 1. Platz in der Kategorie „Bestes Brownfield Projekt Wohnen“ ausgezeichnet.

Sebastian Franzius und Stefanie Schupp nehmen den Award in Empfang.
Offizielles Video der Award-Verleihung: Brownfield24-Award 2022
Im Gespräch mit Brownfield24 erläutert Projektleiter Sebastian Franzius das Konzept des Sartorius Quartiers.
Raphael Thießen
Interview mit Raphael Thießen
Im Interview mit Raphael Thießen, Geschäftsführer von Brownfield24 sprechen wir darüber, was eigentlich ein „Brownfield“ genau ist und wozu der Brownfield Award beiträgt.
Der Begriff Brownfield wird vor allem schnell mit dem Thema Altlasten assoziiert. Was genau ist ein Brownfield und wo kommt der Begriff her?
„Ein Brownfield ist ein Grundstück bzw. eine Industriebrache, deren Erweiterung, Sanierung oder Wiederverwendung durch das Vorhandensein oder das potenzielle Vorhandensein eines gefährlichen Stoffes (Altlastenfläche, Altlastenverdachtsfläche) erschwert werden kann.“ – so die offizielle Definition der UPA (United States Environmental Protection Agency), der auch wir folgen. Im Deutschen gibt es keine offizielle „Brownfield“-Definition. Das heißt aber nicht, dass das Thema hier bei uns neu ist – ganz im Gegenteil! Das Thema Altlastensanierung gibt es schon seit Jahrzehnten und es hat sich immer weiter professionalisiert. Häufig wird dieser Begriff auch als Synonym für Konversionsfläche, Brachfläche, Altlastenfläche etc. genutzt. Der angelsächsische Begriff hat sich erst in den letzten 4-5 Jahren hier etabliert und fasst eigentlich alle deutschen Begriffe ganz gut zusammen.
Was macht Brownfields für die Immobilienbranche attraktiv und welche Bedeutung haben sie im Rahmen der Nachhaltigkeitsdebatte?
Wirklich attraktiv waren die Flächen in der Vergangenheit nur für wenige, denn Brownfields sind auf Grund ihrer Historie meist kostspieliger in der Entwicklung und risikobehafteter als ein klassisches Greenfield. Erst der Druck durch die Politik verbunden mit dem Ziel einer Reduzierung der Neuflächenversiegelung auf 0 ha bis 2050 zwingt Entwickler dazu, sich auch mit diesen Flächen zu beschäftigen. Mittlerweile gibt es aber fast schon einen „Run“ auf diese Flächen, eben weil viele gemerkt haben, dass mit den richtigen Partnern und professionellem Agieren auch solche Flächen Spaß machen können. Denn Brownfields liegen oft gut, haben eine Infrastruktur, die weiter genutzt werden kann, und es lässt sich häufig Alt mit Neu verbinden. Das von Ihnen revitalisierte Sartorius Areal ist hierfür ein Paradebeispiel!
Mehr und mehr werden Entwickler logischerweise auch aus ESG- bzw. Nachhaltigkeitsgründen dazu angehalten, diese Flächen – zumindest als eine Alternative – mit zu prüfen. Gerade internationale Investoren gucken mittlerweile vermehrt hin, ob die Entwicklung ganzheitlich (also unter Berücksichtigung einer Revitalisierungsfläche) geplant ist oder auf der grünen Wiese steht. Und das ist auch vollkommen richtig und wird zukünftig mehr werden.
Brownfield24 ist die Dienstleistungs- und Netzwerk-Plattform für Brachflächen und Revitalisierungsprojekte in Deutschland. Seit vier Jahren wird der Brownfield24-Award ausgelobt und verliehen. Was ist Sinn und Zweck dieses Awards?
Den Leuten eine Bühne zu verschaffen, die jahrelang mit Herzblut an Brownfield-Projekten gearbeitet haben und solch einen Preis verdient haben. Jedes Jahr stehen Macher bei uns auf der Bühne, die oftmals auch gerührt sind, dass deren Arbeit durch eine Fachjury (wir als Brownfield24 haben kein Stimmrecht) anerkannt wird. Denn normalerweise sieht man am Ende den Nutzer und vielleicht noch den Architekten, der geplant hat. Die „schweißtreibende“ Arbeit, die Kreativität, die Diskussionen, das Fluchen etc. – all das passiert viel früher und genau für diese Macher ist der Preis gedacht.
Natürlich wollen wir mit dem Preis auch auf gute Projekte hinweisen – seht her, welche guten Ideen es für herausfordernde Flächen gibt! Weiterhin wollen wir die Sorge vor solchen Projekten nehmen und dem Brownfield ein besseres Image geben, so wie es z.B. in vielen europäischen Ländern oder auch USA/Kanada schon jetzt der Fall ist. Dort gibt es den „Brownie Award“ übrigens schon seit über 20 Jahren.
In diesem Jahr hat das Sartorius Quartier in Göttingen den 1. Preis in der Kategorie Wohnprojekt erhalten. Welche Kriterien waren für die Jury bei der Preisverleihung ausschlaggebend?
Die Jury lobte die generelle Revitalisierung des ehemaligen Werksgeländes der Sartorius GmbH zu einem gemischt genutzten Quartier in Göttingen. Hierbei war der Jury durchaus bewusst, dass gerade der Erhalt und die Umnutzung dreier historischer Gebäude zu großen Herausforderungen in der bautechnischen Umsetzung führte.
Weiterhin wurde die kostenintensive Reinigung von Altlasten und Kampfmittel honoriert, die Grundlage für die weitere Entwicklung war und in anderen Projekten oftmals auf Grund der Kosten auch schon das Aus bedeuten können.
Nicht zuletzt wurde bei der Entwicklung auf weitere Neuflächenversiegelung verzichtet sowie eine weitere Reaktivierung von Boden durch Entsiegelung – wo möglich - berücksichtigt. Summa summarum enthält das Projekt alles, was eine herausfordernde Brownfieldentwicklung mit sich bringen kann, die durch die Projektbeteiligten aber hervorragend gelöst wurde und einen städtebaulichen sowie nachhaltigen Mehrwert für die Stadt und den Standort geschaffen hat. Zudem hat die Entwicklung Leuchtturmcharakter und sollte auch für ähnliche Areale als „Best Practice“ gelten.
2023 wird der Award 5 Jahre alt. Welche Erkenntnisse haben Sie aus den bisherigen Award-Verleihungen gezogen?
Es gibt so unfassbar gute Projekte und Macher da draußen, die eine Bühne verdient haben. Ich bin selbst jedes Jahr überrascht, wie viele Brownfield-Vorhaben eingereicht werden, und das zeigt ja auch, dass der Preis ernst genommen wird.
Gerade bei der Entwicklung von Brownfields zählt mehr denn je: Tue Gutes und sprich darüber. Denn nur wer weiß, wer mit welchen guten Ideen wo etwas realisiert hat, traut sich vielleicht auch selbst an so eine Revitalisierung ran. Und dafür bietet der Award eine ideale Bühne.
Zudem kann jeder teilnehmen und wird auch zur Verleihung eingeladen, um all die anderen Brownfield-Enthusiasten kennenzulernen. Start für die Bewerbungsphase ist übrigens Anfang Januar – Verleihung am 25. Mai 2023.
Zur Person:
Raphael Thießen ist seit Anfang 2021 Geschäftsführer der Brownfield24 GmbH und hat zuvor seit 2017 entscheidend am Aufbau des 2016 gegründeten Start-Ups mitgewirkt. Der studierte Geograph und Immobilienfachwirt hat langjährige Erfahrungen im Bereich Real Estate. Zu seinen früheren beruflichen Stationen gehören die METRO AG, BNP Paribas Real Estate und die Hagedorn Revital GmbH. Ebenfalls seit 2021 ist er Geschäftsführer des Deutschen Brownfield Verbandes, der auf Initiative von Bronwfield24 gegründet wurde.