Das Neue Hulsberg-Viertel aus der Luft, Blickrichtung Südwesten, in Grau das Neue Klinikum Mitte.
Bremer Frauenpower
Wenn ein neues Quartier entsteht, dann entstehen zumeist auch neue Straßen, die benannt werden müssen. Doch wie funktioniert das und wer bestimmt, welche Namen schließlich auf den Straßenschildern stehen? Für die Straßen im Neuen Hulsberg-Viertel (NHV) in Bremen stehen die Namen inzwischen fest. Berücksichtigt wurden acht verdiente Bürgerinnen der Stadt an der Weser. Dass hier ausschließlich Frauennamen vergeben worden sind, ist jedoch nicht alltäglich. Das dafür notwendige Verfahren dauerte mehrere Jahre und auf dem Weg zu diesem Ergebnis gab es so manche Kontroverse zu meistern.
Laut Bremer Frauenmuseum lag die Anzahl von amtlichen Straßen, Wegen und Plätzen in Bremen im März 2021 bei 4.875. Diese tragen mit 70% mehrheitlich Funktionsnamen nach Orten, Tieren, Pflanzen etc. Bei den verbleibenden 30% entfallen 25 % auf Männer- und 5% auf Frauennamen. Mit dieser Bilanz eines deutlich unterrepräsentierten Frauenanteils steht Bremen nicht allein da. Auch in anderen Städten dürfte das Ergebnis ähnlich ausfallen, weswegen man allerorten im Rahmen von Gleichstellungsbemühungen nun versucht, gegenzulenken. In Bremen hatte der Senat bereits 2008 beschlossen, dass künftig bei der Benennung von Straßen Frauen zu bevorzugen seien und dies so lange, bis hier in etwa eine Parität zwischen Frauen und Männern besteht. Diese wäre – hält man sich an diese Senatsempfehlung – nach Hochrechnung des Portals frauenseiten.bremen – dahinter steht die Bremische Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau – in 82 Jahren erreicht, also im Jahr 2106.
Senatsempfehlung und Vorschlagsrecht
Das Vorschlagsrecht für die Benennung neuer Straßen liegt in Bremen bei den Stadtteilbeiräten. An diese war der Senatsbeschluss von 2008 mit der Bitte, Frauen künftig prioritär zu berücksichtigen, gerichtet. Doch die Umsetzung in die Praxis ist dann doch nicht so gradlinig, wie man vor diesem Hintergrund annehmen könnte und wie das Beispiel des Neuen Hulsberg-Viertels (NHV) zeigt. „Der Beschluss des Senats, der 2018 und 2019 noch einmal bekräftig wurde, ist zwar ein dringender Appell an die Beiräte, aber keine Pflicht,“ erläutert Irmgard Lindenthal, Mitglied für die Grünen im Beirat Östliche Vorstadt, der für das NHV zuständig ist. „Das hat uns die Arbeit auch deutlich erschwert.“ Beiratskollegin Anke Kozlowski, SPD, fügt hinzu: „Ich war überrascht, wie stark wir uns auch heute noch für die Sichtbarkeit von Frauen einsetzen müssen.“ Mit viel Recherche-, Kommunikations- und Überzeugungsarbeit haben beide Frauen intensiv am Prozess der Namensfindung mitgewirkt.
Irmgard Lindenthal (Grüne) und Anke Kozlowski (SPD) haben sich erfolgreich engagiert, im Neuen Hulsberg-Viertel herausragende Frauen in der Bremer Geschichte sichtbar zu machen.
Die Anforderungen, die derzeit neue Straßennamen in Bremen erfüllen müssen, sind schnell umrissen. Zu den wichtigsten Kriterien gehören die Vermeidung von Doppelungen und dass bei der Benennung nach Personen die Namensgeber*innen mindestens 1 Jahr verstorben sein und über einen insgesamt als positiv zu bewertenden Lebenslauf verfügen müssen. Die Benennung erfolgt prinzipiell ohne Vornamen. Nur im Ausnahmefall – bei historisch bedeutsamen Persönlichkeiten – umfasst sie auch den Vornamen. Berücksichtigung finden soll auch das Plattdeutsche, und schließlich sollen Straßennamen im Interesse des täglichen Gebrauchs möglichst kurz sein. Ist der zuständige Beirat dann nach diesen Prämissen seinem Vorschlagsrecht nachgekommen, werden die Namen über das zuständige Ortsamt an das Amt für Straßen und Verkehr (ASV) weitergeleitet und vom Staatsarchiv auf Eignung geprüft. Steht der vorgeschlagenen Benennung nichts im Wege, ergeht schließlich der entsprechende Beschluss auf Senatsebene und das Verfahren ist damit abgeschlossen. Eine Besonderheit stellt die Benennung von Grünanlagen und Parks dar. In diesem Fall – der im NHV mit der Benennung des kleinen Parks im Zentrum des neuen Quartiers auch zum Tragen kam – müssen die Umweltbetriebe Bremen, die für die Grünanlagen zuständig sind, noch ihr Einverständnis geben, bevor der Senat den Namen beschließt.
Theorie und Praxis
Die Vorschläge für die Benennung der Straßen im NHV wurden im Fachausschuss Bauen und Stadtteilentwicklung des Beirats Östliche Vorstadt 2018 beschlossen. Dieser hatte eine Vorschlagsliste mit Namen erstellt. Neben mehreren Frauennamen waren auf dieser Liste aber auch die Namen Kamillenstraße, Arnikastraße und Bei den Sechs Eichen zu lesen. „Es gilt die Regel, dass, wenn der Fachausschuss die Vorschläge einstimmig beschließt, dieser Beschluss als ein Beschluss des Beirats gilt, hier allerdings ohne eine öffentliche Diskussion, wie es in einer Beiratssitzung erfolgt“, erläutert Irmgard Lindenthal. „Wir hielten eine möglichst große Beteiligung der Öffentlichkeit aber in diesem Fall, bei einem so großen Projekt wie dem Neuen Hulsberg-Viertel für wichtig.“ Anke Kozlowski ergänzt: „Einige Beiratsmitglieder wussten bisher überhaupt nichts von diesem Prozess und die Öffentlichkeit war zu diesem Zeitpunkt auch nicht angemessen informiert. Daher war es uns wichtig, dass dieser Antrag auf Beiratsebene beschlossen wird. Die Beiratssitzungen haben eine größere öffentliche Wahrnehmung als die des Ausschusses.“ Daher sorgten die beiden Frauen dafür, dass der schon in Gang gesetzte Genehmigungsprozess angehalten und ein eigener Arbeitskreis für die Namensfindung gegründet wurde. Dieser nahm seine Arbeit Anfang 2020 auf und legte zunächst die Kriterien für die Namensfindung fest, auf Platz 1: ALLE Straßen und Plätze sollen nach Frauen benannt werden. „Die Geschichte zeigt, dass die meisten herausragenden Frauen und ihre Leistungen nach ihrem Tod schnell in Vergessenheit gerieten. Heute wissen wir, dass dieses mit der geringen Bewertung und Beachtung von Frauenleistungen zu tun hat,“ sagt Irmgard Lindenthal. „Straßen nach verdienstvollen Frauen zu benennen, ist eine gute Möglichkeit, Frauengeschichte in die Öffentlichkeit zu tragen; denn diese Frauen sind unsere Vorbilder.“ Weitere Kriterien für die Namensvorschläge waren ein Bezug zu den Themen Medizin und Gesundheit, ein örtlicher Bezug, ein besonderes politisches Engagement oder andere besondere Leistungen, die vollbracht wurden.
Am Ende der umfassenden Recherchetätigkeit stand eine Liste mit acht Frauennamen, die 2022 vom Beirat mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen wurde. Mit eingeflossen in diese Liste war auch ein Vorschlag, der aus der Bevölkerung kam. Der Prozess der Namensfindung wurde vom Bremer Frauenmuseum begleitet, deren Vorstände Namensvorschläge einbrachten, Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Lebensläufen der Frauen zur Verfügung stellten und allgemein beratend zur Seite standen. „Unser Ziel ist es, Lebens- und Arbeitszusammenhänge von Frauen und ihre Leistungen in Kunst und Gesellschaft zu dokumentieren und einer interessierten Öffentlichkeit vorzustellen“, umreißt Marion Reich, Vorsitzende des Bremer Frauenmuseums, die Ausrichtung des gemeinnützigen Vereins. Eine große Sammlung von Frauenportraits ist bereits entstanden und auf der Homepage einzusehen und das 2016 überarbeitete Bremer Frauenlexikon „Frauen Geschichte(n) - Biografien und FrauenOrte aus Bremen und Bremerhaven“ ist das zentrale Nachschlagewerk, wenn es um verdienstvolle Bremer Frauen geht. Im Rahmen seiner Tätigkeit setzt sich der Verein auch für die Benennung von Straßen nach Frauen ein – ein nicht immer von Erfolg gekröntes Ansinnen. „Dass in einem Neubaugebiet oder einer Quatiersentwicklung wie im Fall vom Neuen Hulsberg-Viertel alle neu entstehenden Straßen, Wege, Plätze und Parks Frauen gewidmet werden, ist eher die große Ausnahme,“ weiß Marion Reich. „Insofern stellen die Gartenstadt Werdersee und das Neue Hulsberg-Viertel, bei denen dies so umgesetzt worden ist, Vorreiterprojekte dar, die hoffen lassen, dass Frauen künftig auch in diesem Bereich mehr Sichtbarkeit erfahren werden.“
Das Neue Hulsberg-Viertel aus der Luft, Blickrichtung Süden, in Grau das Neue Klinikum Mitte, in Rot die Lage der neuen Straßen.
Namensgeberinnen aus zwei Jahrhunderten Die für die Straßennamen schließlich ausgewählten Frauen wurden zwischen 1814 und 1940 geboren. Die Älteste in der Runde ist Louise Aston. Die Tochter aus begütertem Elternhause fiel Mitte des 19. Jahrhunderts durch ihre emanzipatorischen Ansichten auf, die – gepaart mit einem deutlichen Bekenntnis zu Sozialismus und Atheismus – die Gesellschaft gegen sie aufbrachten. Sie war als Schriftstellerin aktiv und hielt mit ihrer Meinung zu gesellschaftlichen Missständen nicht hinterm Berg. Die 1874 geborene Anna Stemmermann war in der Zeit zwischen 1907 bis 1920 die erste und einzige zugelassene Ärztin in Bremen mit eigener Praxis. Sie setzte sich mit hohem Engagement für arbeitslose und arme Menschen ein. Ihre 1929 gegründete Stiftung finanzierte soziale Projekte. Elisabeth Kolomak machte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts als streitbare Mutter die Geschichte ihrer Tochter Lisbeth öffentlich, die zuvor an den Folgen einer zweifelhaften Behandlung im Krankenhaus verstorben war. Schließlich geriet sie selbst in das Visier der Behörden und wurde in einen Justizskandal verwickelt, der reichsweit für Aufmerksamkeit sorgte.
Hanna Lampe, in begüterten Verhältnissen mit umfassender Schulbildung aufgewachsen, baute sich eine berufliche Laufbahn als Heimat- und Familienforscherin auf. Inspiriert durch die eigene Familiengeschichte entwickelte sich die versierte Autodidaktin und akribische Forscherin bald zu einer angesehenen Expertin auf ihrem Gebiet. 1985 wurde ihr für ihre Arbeit das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen, eine Auszeichnung, die bis heute nur wenige Frauen erhalten haben. Gesine Beckers Engagement lag Zeit ihres Lebens in der Politik. Zunächst seit 1910 Mitglied der SPD war sie später Mitglied der DKP, die sie zwischen 1919 und 1929 in der Bremer Bürgerschaft vertrat. Insbesondere setzte sie sich für die Belange von Frauen und Kindern ein sowie von Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten.
Bei Martha Friedländer wird es die Gehörlosigkeit ihrer Eltern gewesen sein, die ihren Lebensweg früh geformt hat. Nach einer Lehrerinnenausbildung und einem Studium der Sprachheilkunde und des Lippenlesens unterrichtete sie sprachkranke Kinder und verschrieb sich ganz der Sprachheilpädagogik. 1936 musste die Jüdin emigrieren, war zunächst in Dänemark und dann in England tätig und kehrte 1946 zurück nach Bremen, wo sie ihre Arbeit engagiert fortsetzte. Eigentlich wollte Martha Zöckler Medizin studieren, wurde darin aber in ihrem Elternhaus nicht unterstützt und wendete sich daher der Krankenpflege zu. Von Kindesbeinen über ihre Eltern mit dem Thema der Diakonie verbunden, wurde ihr, nachdem sie an zahlreichen Orten krankenpflegerische und diakonische Tätigkeiten ausgeübt hatte, 1945 das Amt der Oberin im Diakonissenmutterhaus/Diakonissenkrankenhaus angeboten, dessen Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Krieges sie neben ihrem Amt als Oberin managte.
Die erst 2008 verstorbene Helga Krüger ist die jüngste der ausgewählten Frauen. Mit großem Widerstandsgeist erkämpfte sie sich das Recht, Abitur zu machen und wie ihr Bruder zu studieren. Sie studierte zunächst Romanistik, entdeckte dann ihre Leidenschaft für Soziologie und wissenschaftliches Arbeiten. Nach mehreren universitären Anstellungen erhielt sie 1974 den Ruf nach Bremen, wo sie Professorin für Familiensoziologie, Familiale und Berufliche Sozialisation wurde. Sie gehört zu den Pionierinnen in der Frauen- und Geschlechterforschung und war Mitbegründerin des bundesweit ersten Studiengangs Pflegewissenschaft. „Diese Frauen“, kommentiert Irmgard Lindenthal die Auswahl, „haben ihr Leben gelebt für Dinge, von denen wir als Gesellschaft heute noch viel haben. Sie haben Ehrung und Gedenken verdient.“
Eine letzte zu nehmende Hürde stellten die Legenden dar, die an den Straßenschildern angebracht werden. Legendenschilder, zumeist direkt unterhalb des Straßenschildes zu finden, beinhalten nähere Informationen zur Namensgebung, verweisen bei Personen auf Lebensdaten, Tätigkeiten und Verdienste der hier geehrten Persönlichkeit. Über das Ortsamt hatte das Staatsarchiv die Vorgabe an den Beirat gemacht, dass die Legenden kurz und knapp sein sollten. „Dem haben wir entgegengehalten, dass die Legenden zumindest so lang sein müssten, dass man weiß, was die besonderen Leistungen dieser Frauen waren,“ erzählt Irmgard Lindenthal. „Denn gerade Frauen verschwinden nach ihrem Tod sehr schnell aus der öffentlichen Wahrnehmung.“ Daher machte sie sich die Mühe, die Länge der Legenden bei bereits existierenden Straßennamen, die nach Männern benannt wurden, in Augenschein zu nehmen. Nachdem sie ausreichend Beispiele mit längeren Legenden recherchiert hatte, durften auch die Legendentexte der acht Frauen um ein paar Zeichen länger ausfallen.
Ende 2023 war dann alles vollbracht – die neuen Straßennamen samt Legenden waren auf Senatsebene beschlossen. Als größte Herausforderung in diesem Verfahren haben Irmgard Lindenthal und Anke Kozlowski die Überzeugungsarbeit empfunden, die vonnöten war, um die notwendige Mehrheit im Beirat für den Beschluss der Frauennamen zu erreichen. „Wir haben dazu vorab bilaterale Gespräche mit Beiratsmitgliedern geführt, um jene, die noch nicht von den Vorschlägen überzeugt waren, für das Vorhaben zu gewinnen“, erinnert sich Irmgard Lindenthal. „Ich war irritiert darüber, dass es im Beirat doch Widerstände zur Namensgebung gegeben hat“, resümiert Anke Kozlowski. „Gefreut hat mich, dass wir mehr Frauen gefunden haben, die als Namensgeberinnen geeignet gewesen wären als wir Straßennamen zu benennen hatten. Es gab so viele tolle, politisch aktive, mutige Frauen im letzten Jahrhundert – das hatte ich bis dato nicht gewusst.“
Noch im Jahr 2024 soll es mit dem Bau der Straßen losgehen und bis 2027 sollen fünf der acht Straßen fertiggestellt werden. Der Appell des Senats wird im NHV also vorbildlich umgesetzt. Das neue Quartier kann sich in dieser Hinsicht als Vorzeigeobjekt mit Frauenpower betrachten. Wenn das jetzt Schule macht und Frauennamen konstant bei künftigen Straßenbenennungen den Vorrang erhalten, dann hat Bremen im Jahr 2106 in jedem Fall ein Gleichstellungsthema erfolgreich umgesetzt.
Straßennamen und Legenden:
Louise-Aston-Park:
Louise Franziska Aston, geb. Hoche, 1814-1871. Schriftstellerin und Frauenrrechtlerin, lebte von 1849 – 1855 in Bremen
Anna-Stemmermann-Straße
Dr. Anna Wilhelmine Stemmermann, 1874-1928. Erste in Bremen 1907 mit eigener Praxis zugelassene Ärztin
Elisabeth-Kolomak-Straße
Elisabeth Kolomak, geb. Scholz, 1886-1943. Wehrte sich gegen sittenpolizeiliches Unrecht in Bremen, das ihrer Tochter und ihr angetan wurde
Gesine-Becker-Straße
Gesine Becker, geb. Bolte, 1888-1968. Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats sowie der Bremischen Bürgerschaft.
Martha-Friedländer-Straße
Martha Friedländer, 1897-1978. Bremer Sprachheilpädagogin, als Jüdin in der NS-Zeit zur Emigration gezwungen
Martha-Zöckler-Straße
Martha Zöckler, 1897-1980. Diakonisse und Oberin mit großem Engagement beim Wiederaufbau des Diakoniekrankenhauses
Hanna-Lampe-Platz
Johanne Wilhelmine, gen. Hanna, Lampe, 1897-1996. Bremer Heimat- und Familienforscherin
Helga-Krüger-Straße
Prof. Dr. Helga Krüger-Müller, geb. Krüger, 1940-2008. Bremer Soziologin, Gründerin des Studiengangs Pflegewissenschaft in Bremen