Der Umsteiger
Geschichte eines Gebäudes
Es wirkt ein bisschen wie ein Relikt längst vergangener Zeit, das kleine Backsteingebäude mit dem markanten spitzen Giebel, das zwischen dem S-Bahnhof Yorckstraße und den Neubauten der Bautzener Straße in Berlin-Schöneberg steht. Seit bald 120 Jahren erlebt es als stiller Zeitzeuge die Veränderungen in seinem Umfeld, hat zwei Kriege überstanden und viele Menschen kommen und gehen gesehen. In Kürze soll in seiner langen Geschichte ein neues Kapitel aufgeschlagen werden.
Backsteingebäude mit der Kneipe Zum Umsteiger. Links davon der S-Bahnhof Yorckstraße,
im Hintergrund das Fitness-Center der Quartiersentwicklung Neu-Schöneberg
Wer heute die Yorckstraße auf der Höhe der gleichnamigen S-Bahnstation entlanggeht, dem fällt gewiss ein Gebäudeensemble auf, das Rätsel aufzugeben scheint. Am besten lässt es sich von der Fußgängerbrücke aus betrachten, die an dieser Stelle die Yorckstraße überspannt: Dort steht das Bahnhofsgebäude der S-Bahn Yorckstraße mit verputzter Fassade und Flachdach und daneben ein schmaler, sichtlich betagter Backsteinbau, der rückseitig von einem grauen Neubau umrahmt wird, der ein Fitness-Studio beherbergt. Man fragt sich, wie sich ein solches Gebäudeensemble an dieser Stelle entwickelt hat.
Das Bahnhofsgebäude Yorckstraße nach seiner Fertigstellung im Jahr 1903
Eine wesentliche Erklärung für das, was dort heute zu sehen ist, bietet das Landesdenkmalamt. Beide Gebäude, die direkt an der Yorckstraße stehen, sind überraschenderweise etwa zeitgleich entstanden. Das Backsteingebäude, das als Restaurations- und Wohngebäude von den Architekten Klitscher und Afdring erbaut wurde, entstand 1905. Das Bahnhofsgebäude, auch wenn der erste Eindruck anderes vermuten lässt, bereits zwei Jahre früher. 1902-1903 wurde es nach den Plänen von Karl Cornelius, Regierungsbaumeister bei der Preußischen Eisenbahndirektion Berlin, errichtet. Heute stehen beide Häuser unter Denkmalschutz. Bei genauem Hinsehen zeigt sich die zum Giebelhaus zeigende Backsteinmauer des Bahnhofsgebäudes mit einer Art Turmanbau am Ende als optische Brücke zum Nachbarn. Ein Bild des Bahnhofs kurz nach seiner Fertigstellung belegt, dass beide Gebäude im Stil der märkischen Backsteingotik gestaltet wurden, das Bahnhofsgebäude nach Kriegsschäden jedoch nur stark vereinfacht wiederaufgebaut wurde bzw. seines Daches und der originalen, verzierten Fassade verlustig ging.
Blick von oben auf den Umsteiger. Dahinter das Flachdach des Bahnhofs Yorckstraße.
Im Hintergrund ein Teil der erhaltenen Yorckbrücken
Bahnsteig des S-Bahnhofs Yorckstraße mit den original schmiedeeisernen Bahnsteigsäulen. Die Holzstützen sowie das Dach sind Provisorien der Nachkriegszeit.
Das Bahnhofsgebäude Yorckstraße von innen. Wand- und Bodenfliesen sind noch original. Anstelle des verglasten Oberteils mit Spitzbogen über den Eingangstüren ist heute eine weiße Putzfläche zu sehen.
Der erhaltene Rest des Gebäudes ist heute hinter einer Putzfassade verborgen. Die ursprünglichen Treppen und Gänge, der Fliesenfußboden und die Wandoberflächen blieben jedoch erhalten. Auch der Bahnsteig mit seiner sehenswerten Dachkonstruktion steht unter Denkmalschutz genauso wie die historischen Yorckbrücken, die sich zu beiden Seiten des Bahnhofs befinden. Sie sollen nach und nach instandgesetzt und als Fuß- und Radwegeverbindungen dienen.
Dauerhaft trug die Kneipe den Namen Zum Umsteiger wohl erst seit den 1950er Jahren. (Aufnahme aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg)
Doch zurück zu unserem Zeitzeugen, der – anders als das Bahngebäude – so gut wie unbeschadet in der Gegenwart angekommen ist. Nach Fertigstellung des Bahnhofs stand vermutlich die Überlegung im Raum, dass an einem Bahnhof auch eine Bahnhofsgaststätte zweckmäßig sei. Mit diesem Gedanken dürfte Bauherr Louis Grandjean, der das Grundstück vom Eisenbahnfiskus gepachtet hatte, das Gebäude errichtet haben, in dem unten eine Gaststätte eingerichtet wurde und der Hausherr selbst obendrüber wohnte. Damit begann an diesem Ort eine Berliner Kneipengeschichte, die erst 2018 ihr Ende fand.
Es wird deutlich: Den Hintergrund für diese auf den ersten Blick doch recht zusammengewürfelt anmutende Gebäudelandschaft bildet ein Stück Berliner Eisenbahngeschichte. Wer sich mit solchen und anderen Berliner Geschichten gut auskennt, ist Lutz Röhrig. Der gebürtige Kreuzberger dokumentiert den Wandel in seiner Stadt mit wachem Auge, Kamera und Forschergeist. Auf seinem Blog Zeit-fuer-Berlin sind die Ergebnisse seiner Streifzüge, Gespräche und Recherchen in Berlin zu lesen und zu sehen – eine reiche Fundgrube für Berliner und Berlinerinnen und alle Berlininteressierten. Die Veränderungen an der Yorckstraße weckten seine Neugierde und er war es auch, der die Kneipe Zum Umsteiger, wie sie vermutlich seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts hieß, noch bei vollem Betrieb erlebte und dokumentierte.
Stadtchronist Lutz Röhrig auf der sanierten Yorckstraßenbrücke vor dem Umsteiger
„Es ist im Februar 2016 gewesen, erinnert sich Lutz Röhrig, „als ich auf dem Nachhauseweg an der Yorckstraße vorbeikam und beschloss, diese kultige, seit langem bestehende Kneipe Zum Umsteiger einmal zu besuchen. Meine Kamera hatte ich dabei, bestellte ein Bier und fragte dabei die Bedienung, ob ich denn hier ein paar Fotos machen könne. Ja, kein Problem, wurde mir entgegnet. Ich schicke Ihnen aber noch meinen Mann, der kann Ihnen etwas über die Kneipe erzählen.“ Und tatsächlich, ein überaus gut gelaunter Wirt kam an den Tisch, stellte sich mit „Hans-Werner Sens“ vor und begann anhand von ein paar alten, schnell hervorgekramten Bauplänen über die Geschichte des Gebäudes zu erzählen.
Aus der Zeit des ersten Eigentümers Louis Grandjean stamme noch die an die Wand der Wendeltreppe angepasste Sitzbank, die damals den Namen „Verlobungs-Bänkchen“ erhalten habe sowie das Büfett hinter dem Tresen. Gesprochen wurde auch über das Wasser im Keller und wie Sens einst, an einer roten Ampel wartend, den Gedanken gefasst habe, aus seinem Job als Angestellter bei einer großen Versicherungsgesellschaft auszusteigen und diese Kneipe zu übernehmen. Mit dem damaligen Pächter des Gebäudes, Karl-Heinz Mühlenhaupt, von ihm nur „Kalle“ genannt, war er schon seit langem befreundet. So entstand jene Kultkneipe, der Hans-Werner Sens das besondere Etwas, u. a. mit seinen Literaturlesungen, gab. Nebenbei war er auch ein begeisterter Sammler von Erinnerungsstücken zum Gebäude und zum Thema Bahnhof und Eisenbahn, wovon die Gestaltung des Gastraums beredtes Zeugnis ablegte.
Die Kneipe Zum Umsteiger von innen, 2016. Ganz links an der Wand Kneipenwirt Hans-Werner Sens, rechts am Tresen seine Frau Michaela.
Im Vordergrund ist das so genannte „Verlobungsbänkchen“ zu sehen,
das sich an die Rundung des dahinterliegenden Wendeltreppenhaus schmiegt.
Wohlsortiertes Buffet hinter dem Tresen
“Zeichnung zur Erbauung eines Restaurations- und Wohngebäudes auf dem Eisenbahn-Fiskal Gelände am Bahnhof Yorkstrasse in Berlin, Pachteigentümer Herr Louis Grandjean“
Auch Ursprung und Geschichte des Gebäudes, in dem der Umsteiger so lange beheimatet war, hat Lutz Röhrig ergründet. „Um zu verstehen, warum der in Wilmersdorf lebende Gastwirt Louis Grandjean beschloss, ausgerechnet an dieser Stelle, inmitten der damals rund 45 bestehenden Eisenbahnbrücken, ein Gasthaus zu errichten“, sagt Röhrig, „der muss ein bisschen tiefer in die Geschichte des Ortes eintauchen.“ Im direkten Umfeld des Bahnhofs Yorckstraße existierte bereits der Bahnhof Großgörschenstraße, der 1891 eröffnet worden war, und zwischen 1905 und 1907 wurde auf der anderen Seite, an der Ecke Yorckstraße/Möckernstraße der Zollpackhof der Anhalter Bahn gebaut. „Der Umsteigeverkehr zwischen den beiden Vorortbahnhöfen, die hohe Zahl der Bahnbeschäftigten und der Arbeiter auf den diversen Holz- und Lagerplätzen im Umkreis sowie der starke Berufsverkehr auf der Yorckstraße ließen den Bau eines Restaurationsgebäudes vielversprechend erscheinen“, vermutet Röhrig.
Ebenso wie das benachbarte Bahnhofsgebäude wurde auch das Gebäude des Umsteigers aufgrund der Lage des Grundstücks in den Bahndamm hineingeschoben, der zuvor an dieser Stelle abgetragen wurde. Ein Blick auf die Baupläne verdeutlicht, dass hier besondere bauliche Maßnahmen erforderlich waren. So wurden zwei Betonmauern errichtet, die zum einen die Statik des Gebäudes sicherstellten und gleichzeitig den Bahndamm abstützen. Um auch einen rückwärtigen Zugang zum Gebäude zu ermöglichen, wurde auf Höhe der 1. Etage eine Art Brücke zum Haus gebaut. Wegen der geringen Grundfläche, über die das nur 7 Meter breite und 9 Meter tiefe Gebäude verfügte, mussten die für den Betrieb einer Gasstätte notwendigen Räume über die einzelnen Stockwerke verteilt werden. Der Gastraum lag im Erdgeschoss, die Küche mit zwei Zimmern im 1. Stock und die Waschküche fand ihren Platz erst auf dem Dachboden. Alle Etagen wurden sehr platzsparend durch eine schmiedeeiserne Wendeltreppe in der rechten hinteren Ecke des Gebäudes verbunden. Diejenigen, die die Kneipe bewirtschaften, mussten also über eine gewisse Fitness verfügen und durften wenig schwindelanfällig sein.
Wandgemälde in der Kneipe Zum Umsteiger
Nach Recherchen von Lutz Röhrig ist die Liste der Besitzer und Pächter der Immobilie, die die Kneipentradition an dieser Stelle fortgeführt haben, trotz der langen Zeit von 1905 bis heute recht übersichtlich geblieben, was von ihm als Zeichen für ein hinreichendes Einkommen durch den Gastbetrieb gewertet wird. Demnach besaß Grandjean das Gebäude vermutlich bis zum Beginn der 1920er Jahre. Ihm folgte Hermann Schulz, der, vermutlich auch mit seinem Sohn Gerhard als Nachfolger, die Gastwirtschaft bis gegen Ende der 1960er Jahre betrieb. Von Gerhard Schulz, der auch die „Berliner Fibel“, ein Lesebuch für die Grundschule, illustrierte, soll auch das große Wandgemälde, das den Umsteiger bis zuletzt schmückte, stammen. Es folgte ein weiterer Pächter und in den 1980er Jahren wurde die Kneipe offensichtlich von einer Frau geführt, von der sie dann wohl Karl-Heinz Mühlenhaupt übernahm, um sie später wiederum an Hans-Werner Sens weiterzugeben.
Gebäudeensemble an der Yorckstraße, 2015. Neben dem Backsteingebäude rechts sind noch das Kontorgebäude samt Aufgang und das Ladengeschäft zu sehen. Alle drei Gebäude waren damals an Karl-Heinz Mühlenhaupt verpachtet.
Mühlenhaupt hatte als letzter Pächter auf diesem Areal nicht nur das Gaststättengebäude, sondern auch den daneben liegenden kleinen Laden und das ehemalige, von der Straße aus über eine Freitreppe zu erreichende Kontorgebäude übernommen, in dem er wohnte. Die Verpachtung der Gebäude durch die Reichsbahn der DDR gemäß alliiertem Abkommen war eine Besonderheit im damaligen West-Berlin, die nach der Wende und der Verschmelzung von Reichsbahn und Bundesbahn in der Deutsche Bahn AG ihr Ende fand. 2010 verkaufte diese das gesamte Areal an der Ecke Yorckstraße/Bautzener Straße. Der Kneipenbetrieb konnte jedoch von Hans-Werner Sens und „seiner Holden“, wie er seine Frau stets titulierte, weitergeführt werden. Als beide 2017 in den wohlverdienten Ruhestand gingen, versuchten für kurze Zeit zwei junge Männer, die lange Kneipentradition an dieser Stelle fortzuschreiben, doch offensichtlich gelang es ihnen nicht, die große Lücke, die das Ehepaar Sens hinterlassen hatte, zu füllen. Mit der endgültigen Schließung des Umsteigers 2018 wurde die Kneipentradition an der Yorckstraße 56 beendet.
Die Erdarbeiten für die Quartiersentwicklung „Neu-Schöneberg“ haben begonnen. 2016
Im Hinterland, auf dem 2 Hektar großen Grundstück an den Gleisen, wuchs da bereits ein neues Wohnquartier aus dem Boden mit ca. 300 Mietwohnungen, einer Kita, einem Supermarkt und einem Gebäude mit Fitnesszentrum und Café, das heute im Rücken des Umsteigers zu sehen ist. Im Rahmen dieser Maßnahmen wurde auch die erste der denkmalgeschützten Yorckbrücken saniert, die heute als neue Wegeachse für Radfahrer und Spaziergänger eine barrierefreie Verbindung zwischen dem Park am Gleisdreieck und der Bautzener Straße herstellt. Der Bezirk unterstützte das Neubauprojekt, legte aber schützend die Hand über den betagten Zeitzeugen an dieser Stelle, indem er sich dafür einsetzte, dass das Gebäude 2013 unter Denkmalschutz gestellt wurde.
„Heute fehlt dem Gebäude der stilistische Gegenpart, den es früher im benachbarten Bahnhofsgebäude hatte, der aber jetzt für den flüchtigen Blick der Passanten nicht mehr erkennbar ist,“ resümiert Lutz Röhrig die Sachlage. Die seitliche, dem Restaurationsgebäude gegenüberliegende Fassade des Bahnhofsgebäudes sei jedoch beinahe vollständig erhalten, und ein Blick ins Innere auf die ursprüngliche Wandfliesung, die alten Handläufe und große Teile erhaltener originaler Bodenfliesen stelle den Bezug zu seiner Entstehungszeit schnell her. Auch besitze die Vorhalle noch die ehemaligen Schalterräume und die alten Obergadenfenster. „Beide Gebäude, Bahnhof und Restaurationsgebäude, brauchen einander“, fährt er fort, „und sind heute als Ausdruck eines längst vergangenen Eisenbahnzeitalters und des damaligen Wunsches der Eisenbahnverwaltung nach einer einheitlichen Stilistik kaum mehr verständlich. Zusammen mit den 29 Yorckbrücken stellen sie ein Denkmalensembles besonderer Art dar. Ein wiederhergestelltes Bahnhofsgebäude wäre die Klammer, welche dem Restaurationsgebäude den notwendigen architektonischen Rückhalt geben würde.“ Sein dringlicher Wunsch lautet daher: „Gebt dem Bahnhof sein Dach zurück!“
Blick vom Dachgeschoss die Wendeltreppe hinunter. Hier möchte das Denkmalamt Berlin eine möglichst orginalgetreue Restaurierung.
Ein Teil des ehemaligen Kneipentresens stellt im Erdgeschoss des sanierten Gebäudes eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft her.
Für den Umsteiger wird in jedem Fall in Kürze ein komplett neues Kapitel aufgeschlagen. Künftig soll es in diesem Gebäude weder eine Kneipen- noch eine Wohnraumnutzung geben. Trotzdem soll es auch in seiner künftigen Nutzung dem Stadtteil verbunden bleiben, wenn auch auf andere Art und Weise. Nach der Sanierung eines Wasserschadens und einer umfänglichen Renovierung der Innenräume wird nach einem neuen Mieter gesucht, der zum Gebäude und zum Stadtteil passt. Doch zunächst muss noch mit dem Denkmalschutzamt über die sachgerechte Sanierung der historischen Wendeltreppe im Gebäude gesprochen werden. Wenn dann auch das abgeschlossen ist, kann die Zukunft für den Umsteiger beginnen.
Weitere Details zur Baugeschichte des Gebäudes finden sich im Blog von Lutz Röhrig unter zeit-fuer-berlin.de