Augen auf Beton
In Deutschlands Großstädten drehen sich die Baukräne. Wohnraum wird geschaffen, neue Stadträume nehmen Gestalt an. Mit einher gehen Veränderungen, schüren Skepsis gegenüber dem Unbekannten. Ein künstlerisches Projekt wirft einen neuen Blick auf die Welt der Baustelle.
Für die Portraits griff die Filmproduzentin Janine Baumeister erstmalig selbst zur Kamera.
Der Weg in ihr Büro in den Schreibfederhöfen in Berlin-Friedrichshain führt Filmproduzentin Janine Baumeister durch eine Großbaustelle. Daher kennt sie das Gefühl, diese Mischung aus Skepsis und Sorge, wenn sich der eigene Kiez verändert. Gleichzeitig hat sich ihr Blick auf das Baugeschehen verändert. „Bei meinem täglichen Weg über die Baustelle bin ich immer neuen Menschen begegnet. Wir schauten uns in die Augen, lächelten, grüßten ab und an. Und jedes Mal dachte ich: Wahnsinn, wie viele Menschen hier arbeiten. Woher kommen sie, und wohin gehen sie als Nächstes?“ In der Mittagspause konnte sie beobachten, wie die Bauarbeiter und Bauarbeiterinnen im benachbarten Supermarkt etwas kauften. Alle hintereinander standen sie an der Kasse. Die Kassiererinnen verdrehten schon mal die Augen, wenn es Sprachbarrieren gab. Die Frage, die sich ihr aufdrängte, war: Wie werden diese Menschen eigentlich wahrgenommen? Aus diesen Fragen heraus entstand das Projekt „Augen auf Beton“.
„Mein Hauptanliegen mit diesem Projekt ist es, Begegnungen zu schaffen“, erklärt Janine Baumeister. Die Menschen hinter dem Bauzaun sollen sichtbar werden. Ihre Geschichten und ihre Herkunft, die Arbeit, die sie leisten. Im Rahmen von Interviews sind eindrucksvolle Porträts entstanden. All diese Einblicke werden ab Herbst im öffentlichen Raum ausgestellt, auf Bauzäunen, an Hausfassaden. Eine Internetseite bündelt Foto-, Text- und Filmmaterial als virtuelle Dauerausstellung, auch auf Englisch.
Wer an den Bauzäunen entlanggeht, kann den Porträtierten im Großformat praktisch in die Augen sehen. So begegnet man z. B. Przemyslaw aus Polen, Mirian aus Albanien oder Bernard aus Kamerun. Ganz unterschiedliche Lebenswege führen sie nach Deutschland auf die Baustelle. Przemyslaw hat schon überall gearbeitet, in England, Frankreich, in der Schweiz. Unterschiedliche Orte und Menschen kennenzulernen gefällt ihm besonders an seinem Beruf. Als Teenager folgte er seinem Vater auf den Bau – und ist dabeigeblieben. Er ist glücklich mit dem, was er tut. Wenn er zu lange zu Hause in Polen ist, wird er unruhig und fragt sich: „Okay, wohin als Nächstes?“
„Die Qualität meiner Arbeit ist mir wichtig, ich mache die Dinge ‚mit Gefühl‘.“
Mirian, 35, aus Albanien
„Der Unterschied zwischen einer Baustelle in Deutschland und in Kamerun? Hier haben wir eine Betonmaschine, in Kamerun mischt man Zement, Sand und Kies mit der Hand!“
Bernard, 28, aus Kamerun
Mirian spricht acht Sprachen, kommt ursprünglich aus Albanien. Der Familie ging es gut, sein Vater arbeitete als Bauleiter im Ausland, sie waren die Ersten im Dorf, die einen Fernseher hatten. Doch als er zehn Jahre alt war, brach der Bürgerkrieg aus, die Familie verlor alles, musste fliehen. Mirian macht die Dinge „mit Gefühl“, wie er sagt. Ob Wohn- oder Arbeitsräume – die Qualität seiner Arbeit ist ihm wichtig. Denn später verbringen dort Menschen jeden Tag viele Stunden. Sie sollen sich dabei wohlfühlen. Deshalb will er seine Arbeit gut machen.
Bernard baut sich seit vier Jahren in Deutschland ein neues Leben auf. Schritt für Schritt. Stein auf Stein. Von Beruf ist er Mauerer, will nächstes Jahr seine Abschlussprüfung bestehen. Seine Heimat Kamerun musste er verlassen, landete zunächst in einem Flüchtlingsheim in Brandenburg. Rassistische Beleidigungen hat er kennengelernt, aber er sagt, Rassisten gebe es überall, in Brandenburg wie in Kamerun. Hier in Deutschland will er alles richtig machen. Die Sprache lernen, seine Abschlussprüfung im nächsten Jahr bestehen, irgendwann als Polier arbeiten. Ein gutes Leben haben.
Doch die Baustellenwelt besteht nicht nur aus Männern. Das, was uns traditionell als Männerwelt erscheint, wird mehr und mehr auch von Frauen erobert. Bislang sind es noch nicht viele. Aber es gibt sie. Zum Beispiel Zeynep, Deutsche, in Berlin geboren, Tochter türkischstämmiger Eltern. Seit zehn Monaten arbeitet sie als Assistenz der Bauleitung und schreibt gerade ihre Bachelorarbeit im Fach Facility Management. Am ersten Arbeitstag hat sie ihren Eltern ein Selfie geschickt – mit Helm über dem Kopftuch. Die Eltern sind unglaublich stolz auf ihre Tochter, die sich früh entschieden hat, auf dem Bau zu arbeiten. Als Frau ist es dort nicht immer einfach, als Frau mit Kopftuch war es das im Alltag nie. Ihr äußeres Erscheinungsbild hat immer eine Rolle gespielt. An ihrem Tuch wird sie gemessen, be- und zum Teil auch verurteilt. Sie trägt es, seitdem sie zwölf Jahre alt ist, ganz freiwillig. Ihre Familie unterstützt sie in dieser Entscheidung, hat ihr die Wahl gelassen, und Zeynep hat sie getroffen.
„Es ist einfach nur ein Tuch, und das, was darunter ist, das bin immer noch ich.“
Zeynep, 22, aus Deutschland
„Ich will noch weit kommen auf dem Bau. In zehn Jahren vielleicht als Bauleiterin arbeiten.“
Miri, 25, aus Deutschland
Miri hat viel ausprobiert, viele Umwege in die richtige Richtung genommen. Den Beruf der Trockenbauerin kannte sie anfangs nicht. Aber die Vielfältigkeit der Tätigkeit, dass jeder Tag andere Herausforderungen bringt, hat ihr von Anfang an gefallen. In zehn Jahren sieht sie sich weiterhin hier, mitten in dem Gewusel der Baustelle, dann aber vielleicht als Bauleiterin – und in jedem Fall als eine, die anderen Frauen mit Mut und Freude den Weg bereitet hat.
Denise wollte mehr. Etwas Außergewöhnliches machen mit ihrem Leben, keinen 08/15-Job. Am Ende des Tages will sie sehen, was sie mit ihren Händen geschaffen hat. Für ihren Traumberuf hat sie hart gekämpft. Gegen Vorurteile, Widerstände – und ihre eigene Mutter. Heute ist sie Malerin und Lackiererin und bildet die Lehrlinge in ihrem Betrieb aus. Sie arbeitet seit mehr als fünf Jahren auf dem Bau. Heute muss sie nichts mehr beweisen, sondern setzt sich einfach durch. Fragt man sie, was sie sich wünschen würde, dann sind es mehr Frauen auf dem Bau.
„Wenn ich zu lange in Polen bin, dann werde ich unruhig und denke: Okay, wohin als Nächstes?“
Przemyslaw, 33, aus Polen
„Manchmal frage ich mich, ob überhaupt jemand sieht, was man geleistet hat.“
Denise, 30, aus Deutschland
Benjamin Kahlmeyer ist im Team zuständig für die filmischen Portraits auf der Baustelle.
Im Frühjahr 2022 soll „Augen auf Beton“ mit einer Abschlussausstellung enden. Janine Baumeister hofft, dass ihr Projekt bis dahin für viele „Begegnungen“ und eine große Portion Neugier sorgen wird.